Das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem, verkündet am Seeufer zwischen dem ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück in Brandenburg und der Stadt Fürstenberg, endet mit den Worten: "Wenn sie (gemeint sind die jubelnden Jünger) schweigen, werden die Steine schreien." Wir sehen "schreiende Steine", die von Leid erzählen, Grausamkeit und Schmerz, Ausbeutung und Missbrauch. Die "frohe Botschaft" des Evangeliums klingt ganz anders an einem solchen Ort des Gedenkens...
Die Eindrücke graben sich tief ein. Unwirtlich, wenn man bedenkt, dass hier Menschen vor 80 Jahren befreit wurden nach dem Erleiden unvorstellbarer Schmerzen. Wie können Menschen sich so etwas antun, denke ich mir, wie grausam können Menschen mit Ihresgleichen umgehen.
Auf den Samstagabend treffen die Texte des Palmsonntags. Die Passion wird reflektiert, diese Szenen, die Jesus vor seinem Kreuzweg bis zum Tod am Kreuz erleidet. Mir ist, als spiegelte sich all das im Leid der Menschen wieder, die in Ravensbrück ausgebeutet, misshandelt und getötet wurden. Nicht mehr behandelt wie Menschen, sondern wie Nummern, jeglicher Würde beraubt. Bilder und Worte des Kreuzwegs werden so greifbar…
Ich erinnere mich an die Szene, in der Pilatus nach dem Verhör den selbsternannten „König der Juden“ seinem Volk präsentiert. Er stellt ihn zur Schau in Dornenkrone, purpurrotem Kaisermantel und Schilfrohr – wie er nebenan im See wächst. Das Quaken der Enten durchbricht die Stille wie Geschrei…
„Seht, da ist der Mensch!“ Ja, da ist der Mensch – hier in Ravensbrück, am idyllischen Seeufer, war er der unvorstellbaren Grausamkeit seiner Menschengeschwister ausgeliefert. Ja, da ist der Mensch – hier in Ravensbrück wurde er zur Bestie, der andere quält und tötet, der gegen alle Würde handelt – doch verliert die Würde nicht der Gefolterte, sondern der, der foltert.
Der eine wird zur Bestie und der andere zum Opfer – durch seine Menschengeschwister, die sich gegen ihn erheben. Wie kann man nur, denke ich – und komme zur Einsicht: ja, man kann. Hundertfach, tausendfach – nicht nur damals, sondern auch heute.
Wie kann man verhindern, dass es hier bei uns wieder soweit kommt? Miteinander etwas tun gegen das Vergessen – wie wir an diesem Wochenende, Münchner und Berliner miteinander, in geschwisterlicher Verbundenheit. Nur ein kleiner Schritt. Aber ich habe das Wort gelesen:
Und Adolph Kolping würde sagen: „Anfangen ist oft das Schwerste, aber treu bleiben das Beste.“ Die Kolpingjugend arbeitet hier gegen das Vergessen, seit nunmehr 30 Jahren.
Ich bin beeindruckt an diesen Tagen, wie perfide das Böse ist, wie perfekt es funktioniert und System hat. Das Vernichtungssystem war perfekt organisiert und getragen von vielen, die es unterstützt haben.
Das Gute dagegen hat kein System, sondern Ordnung. Gott schafft Ordnung, die gut ist – er braucht dazu kein System, er schafft aus Liebe.
Und diese Liebe wird selbst noch an diesem Ort spürbar, wenn wir singen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen. … Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Wir hören am Seeufer ein Gebet von Urszula Wińska, einer Inhaftierten, das zum „Lagergebet“ wurde:
Vater unser, der Du bist im Himmel
Und siehst unser heimatloses Leben,
Nimm uns in Obhut, Deine treuen Kinder,
Stille die Tränen, die unsere Seele trüben.
Geheiligt sei Dein Name hier auf fremder Erde,
Wo wir dem Vaterhaus gewaltsam entrissen,
Unter den Feinden und heimlich beten müssen.
Dein Wille geschehe! rufen wir demutsvoll,
Glaubend, daß Leid und Freude von Dir kommen müssen,
Daß Du uns alles gibst, Großer, Allmächtiger Gott,
Und der tiefe Glaube wird unser Schicksal versüßen.
Herr, unser tägliches Brot karge uns nicht!
Gib Kraft zum Überleben, und für die Seele den Glauben,
Daß unsere Verbannung nicht ohne Ziel ist,
Daß wir vielleicht durch unsere alten Sünden leiden.
Vergib unsere Schulden, durch die Schwäche entstanden,
Wenn Zwiespalt, Schmerz, Verzweiflung unsere Seelen füllen.
Und wenn manche, oh Herr, unter dem Kreuz fallen.
Führe uns nicht in Versuchung, die die Seele verdürbe,
vor allen Bösen rette uns vielmehr
Und gib uns eine glückliche Heimkehr.
Und die Kraft, und die Herrlichkeit
Amen
Ravensbrück, Dezember 1941, aus: Constanze Jaiser, POETISCHE ZEUGNISSE. Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2000 (Ergebnisse der Frauenforschung Band 55) S. 151f